Es ist kalt. Nasskalt. Es regnet. Wie schon seit Tagen versteckt sich die isländische Landschaft wieder einmal hinter einem dichten Schleier grauer, mit Wasser vollgesogen Wolken. Eigentlich wollte ich nur eine kleine Pause auf dem Weg nach Akureyri einlegen. Rastplätze an der Ringstraße sind Mangelware und so freue ich mich über einen frisch geteerten, großzügigen Platz, der scheinbar aus dem Nichts neben mir auftauchte. Mutterseelenalleine warte ich im Auto darauf, dass der strömende Regen etwas nachlässt. Zeit genug zu recherchieren was es hier zu entdecken gäbe, sollte die Sintflut eine kurze Pause machen. Þrístapar steht neben dem Eingang. Also irgendetwas mit Þrír ♪(Drei) und stapi ♪ (Felsen/Hügel).
Þrístapar, idyllisch eingebettet in die Hügellandschaft des Vatnsdalur. Kaum zu glauben, dass hier im Januar 1830 zwei Menschen enthauptet und ihre Köpfe zur Abschreckung auf Pfählen aufgespießt wurden. Agnes Magnúsdóttir und der erst 19-jährige Friðrik Sigurdsson waren als Mörder verurteilt worden. Angeklagt zwei Jahre zuvor gemeinsam den auf dem Hof Illugastaðir lebenden Natan Ketilsson und seinen Besucher Pétur Jónsson brutal umgebracht zu haben.
Ich steige aus dem Auto und folge auf einem gepflasterten Pfad dem letzten Weg der beiden Verurteilten. Links und rechts lese ich auf verrostetem Metalltafeln die Geschichte der damaligen Gräueltat:
"Das Verbrechen soll sich wie folgt zugetragen haben: Friðrik Sigurdsson soll mit Hilfe von Agnes Magnúsdóttir und Sigrídur Gudmundsdóttir gegen Mitternacht in den Hof von Natan Ketilsson eingedrungen sein. Ihm wird vorgeworfen, Natan und Pétur Jónsson, der dort als Gast weilte, mit einem Messer und einem Hammer erstochen und erschlagen zu haben. Ferner soll er sie alsbald ob des vielen Blutes und des verräterischen Zustandes der Leichen, mitsamt dem Gehöft in Brand gesteckt haben, zur Vertuschung seiner Tat."
Quelle: Das Seelenhaus von Hannah Kent
Langsam nähere ich mich dem Exekutionsplatz. Bedrohlich ragen die Nachbildungen zweier Pfähle in den grauen Oktoberhimmel während mir ein leichter Schauer über den Rücken läuft.
"Sie sagen, ich soll sterben. Sie sagen, ich hätte Männern den Atem gestohlen und jetzt müssten sie mir den meinen stehlen."
Quelle: Das Seelenhaus von Hannah Kent
Immer wieder lese ich auf den Tafeln in Þrístapar Zitate aus einem Roman: 'Das Seelenhaus'. Bis zu diesem Tag hatte ich nichts von diesem Buch gehört. Wahrscheinlich wäre es auch dabei geblieben, hätte ich nicht an diesem regnerischen Tag hier Halt gemacht.
Die Australierin Hannah Kent verbrachte mit 18 ein Austauschjahr in Sauðárkrókur, unweit des Ortes, an dem Agnes vor mehr als 200 Jahren lebte. Fasziniert von dem Kriminalfall, recherchierte sie in mühsamer Kleinarbeit die Fakten rund um das Geschehen. Herausgekommen ist ein fesselnder Debütroman, der das Leben und Sterben von Agnes auf beeindruckende Weise wieder aufleben lässt.
Eine interessante Doku zur Entstehung des Buches findet ihr bei YouTube: No more than a ghost
"Sie haben mich auf den Sattel gebunden wie eine Leiche auf dem Weg zum Bestattungsort. In ihren Augen bin ich bereits tot, das Grab mein Schicksal. Man hat mir die Arme vor meinem Körper gefesselt. Während wir diese grauenhafte Parade reiten, scheuern die Handschellen an meiner Haut, bis sie wund und blutig ist."
Quelle: Das Seelenhaus von Hannah Kent
Die Geschichte von Armut, Liebe, (Un)Recht und Eifersucht wühlt auf. Nach meiner Rückkehr hatte ich mir sofort das Buch besorgt und an zwei langen Abenden gelesen. Auch wenn das Ende bereits klar war, zog mich die Geschichte in ihren Bann. Beeindruckend erfuhr ich vom Leben aus dieser Zeit. Welch unglaubliche Armut in Island herrschte. Wie Agnes als uneheliches Kind einem Bauernpaar überlassen wurde. Wie das harte Leben im Winter in den Torfhäusern mit verrauchter Luft und gespannten Tierblasen vor den Fenstern sich anfühlte. Dass Mägde und Knechte ohne Rechte waren und hemmungslos ausgenutzt wurden. Wie hart das Überleben damals für viele war, die nicht auf der Sonnenseite geboren wurden.
Wer den Spuren von Agnes Magnúsdóttir folgen möchte, kann in Island zahlreiche Orte des Romans besuchen. Einen Flyer unter dem Titel: 'Welcome to the northwest of Iceland! Burial Rites. The Story of Agnes' findet ihr in den Touristeninformationszentren vor Ort.
⌘ Þrístapar, der Ort, an dem die Hinrichtung stattfand. Es liegt in einem Gebiet, in dem sich kleine Hügel angesammelt haben. Drei von ihnen stehen nebeneinander und geben dem Ort seinen Namen. Hier wurden an einem kalten Tag Anfang Januar 1830 Agnes Magnúsdóttir und Friðrik Sigurðsson vom Bruder des ermordeten Natan Ketilsson enthauptet.
⌘ Tjarnarkirkja, ist die Kirche auf dessen Friedhof sich das gemeinsame Grab von Agnes und Friðrik befindet. Zu Zeiten der Hinrichtung durften Kriminelle nicht auf heiligem Boden begraben werden, also wurden sie damals in der Nähe des Hinrichtungsortes begraben. Ihre abgetrennten Köpfe wurden hingegen auf Spieße gesteckt und zur Schau gestellt. Bereits am nächsten Morgen waren die Köpfe jedoch verschwunden. Niemand wusste, was damit passiert war. Erst über 100 Jahre später wurden Überreste exhumiert und bei der Kirche in Tjörn auf Tjörnes in heiligem Boden begraben. Wie es dazu kam, könnt ihr euch unter Listen to local stories: Þrístapar - The last execution in Iceland anhören.
Achtung: Illugastaðir ist zum Schutz der brütenden Eiderenten von 01. Mai bis 20. Juni geschlossen. Weder die Seehunde noch Natans Werkstatt können besichtigt werden.
⌘ Illugastaðir ist der Bauernhof, auf dem die Morde im Jahr 1828 verübt wurden. Die Ruinen von Natans Werkstatt sind noch immer auf einem Riff namens Smiðjusker zu sehen.
Heute ist Illugastaðir ein Tourismus-Hot-Spot und bekannt dafür, dass man Robben beim Schwimmen oder Faulenzen beobachten kann. An klaren Tagen könnt ihr von hier bis zu den Westfjorden blicken. Nur wenige Touristen wissen welche Tragödie sich hier vor knapp 200 Jahren ereignet hat.
⌘ Das Nationalmuseum in Reykjavík beherbergt Exponate aus der Zeit der Besiedelung bis hin zur heutigen zur Unabhängigkeit. Unter anderem findet ihr hier die extra in Dänemark angefertigte Axtklinge, mit der Agnes enthauptet wurde. Heute sieht man ihr die Spuren der letzten 200 Jahre deutlich, wenn man sie rostig und mit gebrochenen Kanten hinter Glas liegen sieht.
⌘ Die Hauptattraktion des kleinen, versteckt liegenden Museums ist das aus Treibholz gebaute Haifischschiff Ofeigur. Aus dem Jahr 1875, ist es mit 11,9 m Länge und 2,2 m Breite, das größte erhaltene seiner Art. Auf den Spuren von Agnes findet ihr hier in einer kleinen Vitrine die Broschen, die Agnes am Tag der Hinrichtung an ihrer Oberkleidung trug.
Der Bauernhof Kornsá liegt tief im Vatnsdalur-Tal, einem der malerischsten Täler im Nordwesten Islands. Auf diesem Hof verbrachte Agnes Teile ihrer Kindheit und die letzten Monate vor ihrer Hinrichtung. Die Rahmenhandlung des Romans spielt sich auf dieser Farm ab. Der Fluss Vatnsdalsá, der das Gebiet durchzieht ist einer der bekanntesten Lachsflüsse Islands. Dieser Hof ist in Privatbesitz und nicht zu besichtigen.
Der Bauernhof Stóra-Borg, auf dem Agnes nach der Tat gefangen gehalten wurde, liegt einsam an der Straße 717. Heute wird er privat bewirtschaftet. Wenn ihr zwischen Ringstraße und ⌘ Hvítserkur ('berühmter' Basaltfelsen) einen kleinen Umweg über die ⌘ Borgarvirki (Festungsruine) einlegt, kommt ihr direkt daran vorbei.
Der Bauernhof Katadalur liegt am Ende der Straße 712. Hier wohnte Friðrik bei seinen Eltern.
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"Chuck Norris can say Eyjafjallajökull backwards!". Manchmal möchte man es einfach nur vorwärts können...
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